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Workshop

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Die ehrlichen 50

Oh, das 50er. Der ehrliche Sprecher und der durchtriebenste Lügner. Die langweilige Normalbrennweite, bei der man ein ganzes Leben braucht um sie zu beherrschen. Das Objektiv, das vorschlägt, flüstert und täuscht anstatt zu schreien, dickköpfig zu sein und zu betonen. Das Objektiv meines Lebens: Dasjenige, das ich zuletzt aufgeben werde, wenn ich einmal wegen eines grausamen Schicksals meine Objektive einzeln verkaufen müsste.

Es gibt einen verschwommenen Bereich zwischen übertreibenden Weitwinkeln und den immer weiter wachsenden Teles, das Niemandsland der "Normalen". Er beginnt irgendwo um etwa 35 mm und endet irgendwo knapp unter 100 mm. Es gibt etliche Diskussionen darüber, welche Brennweite "normal" ist, als ob es irgendeine magische Art und Weise gäbe die dreidimensionale Welt auf flaches Papier zu übertragen.. Manche schwören auf das vielseitige 35er, andere auf das intimere 85er... aber ich habe immer zum 50er gegriffen und werde es auch weiterhin tun.


"Bric-à-brac" (Tyre, 2002)

Die Königin der Objektive

Ich bin kein Objektiv-Entwickler und alles, was ich weiß habe ich aus Gesprächen zwischen Leuten entnommen, die mehr wissen als ich. Trotzdem gibt es etwas magisches am "Normalbereich", das das einfache Design legendärer Objektive ermöglicht. Das 50er sitzt an einem Dreh- und Angelpunkt: Es ist eine Referenzoptik, die einen Fixpunkt für den Vergleich mit allen anderen Herstellern ermöglicht. Dennoch übt es eine unendliche Faszination auf Objektiv-Entwickler aus... und auch auf einige Sorten von Fotografen.

Wenn Fotografen Soldaten hätten, würde es Kriege geben wegen der relativen Überlegenheit der 'Cron' oder 'Lux' (Summicron oder Summilux, zwei legendäre 50er von Leica - Beispiele hier). Canon hat nicht weniger als vier 50 mm Festbrennweiten im Programm - das 1.8, 1.4, 2.5 Makro und das 1.0L (vor kurzem abgekündigt). Für alle Hersteller ist das 50er das Vorzeigeobjektiv, eine Demonstration dafür, was ihre Objektiv-Entwickler wirklich können. Selbst Canon's 1.8, zum Preis von etwa 100 €, lässt Zooms für einige Tausend Euro alt aussehen. Ich habe noch von keinem Hersteller gehört, der ein schlechtes 50er hergestellt hätte.. wobei einige ziemlich starke Kompromisse eingegangen worden sind, um eine bestimmte Eigenschaft zu maximieren, wie zum Beispiel die Lichtstärke.

Das Objektiv im menschlichen Format

Für mich ist das Beste an dem 50er die Perspektive. Die wundervolle optische Qualität von Festbrennweiten ist ein zusätzlicher Bonus. Die Welt des 50er ist auf eine undefinierbare Weise nahe an der Welt so wie wir sie sehen. Das Objektiv nimmt eine Szene ziemlich genauso auf, wie sie eine Person sehen kann ohne den Kopf zu bewegen. Die Perspektive sieht natürlich aus, die Vertikalen sind unter Kontrolle und es gibt einen sehr starken Eindruck die Welt so zu fotografieren, "wie sie wirklich ist".


"Dialog" (Helsinki, 2003)

Ich habe immer die Fotos am liebsten gemocht, die etwas genauso gezeigt haben, wie ich es gesehen habe. Für mich hat das Fotografieren mehr mit Sehen als mit dem Machen von Fotos zu tun. Das 50er ist ein Objektiv im menschlichen Format. Es gibt etwas an einem guten Bild, das mit dem 50er aufgenommen wurde, das den Betrachter in die Szene hineinzieht, als ob man durch Papier oder einen Bildschirm auf die Szene sieht, die der Fotograf gesehen hat. Die meisten meiner liebsten Fotos wurden mit einem 50er aufgenommen und ich hoffe einige davon haben diese Eigenschaft.


"Scheu" (Helsinki, 2003)

Es ist diese Eigenschaft der "Realität", die das 50er zu einem guten Lügner macht. Die Perspektive beansprucht für sich, dass es wirklich so passiert ist. Trotzdem gibt es nichts an der Brennweite, das verhindert eine Szene zu entwickeln - indem man sie "stellt", wie es Cartier-Bresson mit einigen seiner berühmten Kußszenen getan hat, oder durch Einsatz ausgewählter Ausschnitte oder einer beliebigen Anzahl zusätzlicher fotografischer Geräte.

Sprich mit de, 50er

Der Einsatz des 50er ist bei weitem nicht nur auf "Dokumentarfotos" begrenzt. Da es sich nun mal im Niemandsland zwischen Tele und Weitwinkel positioniert, hat es etwas aus beiden Welten. Richten Sie es nach unten oder oben, gehen Sie etwas zurück, nehmen Sie stürzende Linien mit aufs Bild und wechseln Sie zum Portrait-Format und Sie haben eine Perspektive, die sehr nach Weitwinkel aussieht. Gehen Sie etwas näher ran, lassen Sie Ihr Motiv den Ausschnitt ausfüllen, blenden Sie ab und Sie haben etwas, das wie ein kurzes Tele oder wie ein "Portraitobjektiv" aussieht.


"Laetitia und Leia" (Beirut 2002)

Andere Objektive zwingen Ihnen deren Perspektive auf - das aufgeblasene 28er oder das gebieterische Super-Tele - aber das 50er kann der gewünschten Perspektive angepasst werden. Andere Normalobjektive besitzen ebenfalls diese Eigenschaft, wobei die längeren in Richtung Tele tendieren und die kürzeren in Richtung Weitwinkel.


"Die erste Straßenbahn" (Budapest 2002)

Das 50er ist kein einfaches Objektiv. Andere Brennweiten prägen ihre Eigenschaften den Fotos auf, während sie zur gleichen Zeit fotografische Qualität hinzufügen und in einem gewissen Sinne den Bildaufbau diktieren. Das 50er tut das nicht: Stattdessen muß ein bei 50 mm funktionierender Bildaufbau absolut fotografisch sein. Darum denken viele, es sei das beste Objektiv um das fotografische Sehen zu lernen. Mit dem 50er ist die Entfernung zwischen Szene und Foto am geringsten. Das 50er enthüllt seine Geheimnisse nur schwer, aber seine Intelligenz und der leise Charme machen es zu einem Lebenspartner.

Arbeiten mit 50 mm

Lernen Sie zu sehen. Weitwinkel zeigen komplette Szenen, Teles betonen Details. Die Normalbrennweite... sieht einfach. Das 50er ist ein Objektiv im menschlichen Format, also betrachten Sie die Dinge auf die menschliche Weise. Wenn Sie etwas leicht sehen können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auch das 50er kann.

Lernen Sie den Zusammenhang und auch das Zentrum zu sehen: Das 50er ist locker genug um einen guten Eindruck davon einzufangen. Achten Sie auf Gegensätze und Interaktionen, also Dingen, die durch den Raum hindurch miteinander kommunizieren.


"Was siehst Du an?" (Helsinki 2003)

Beziehen Sie den richtigen Zeitpunkt mit ein in Ihre Gleichung. Vielleicht sehen Sie eine Einstellung und ein kommendes Ereignis. Bereiten Sie sich vor, nehmen Sie daran teil und fotografieren Sie, wenn es passt. Eine Weitwinkel-Szene verändert sich nicht dramatisch mit kleinen Ereignissen. Eine Gelegenheit für ein Tele wird da aber bereits vorbei sein. Eine Szene für das 50er ist zeitlos lebendig und das wiederum im menschlichen Maßstab.


"Rennen durch die Zeit" (Tyre 2002)

Achten Sie auf die kleinen Dinge, die normalerweise übersehen werden: Auf eine Statue fallendes Licht, Vögel, die ein Muster bilden, etwas lustiges an einem verrosteten Fahrrad oder in einem Schaufenster; Das Berührende, Lustige oder Ungewöhnliche in der Welt. Weitwinkel können groß, gerissen oder spaßig sein, aber auf Grund des menschlichen Maßstabs, kann nichts ein Gefühl so vermitteln wie das 50er.


"Entenflotte" (Helsinki 2003)

Hören Sie auf das 50er. Wenn Sie etwas schönes sehen, richten Sie Ihr Objektiv darauf. Wenn dann der Bildaufbau nicht passt, erzwingen Sie nichts. Achten Sie auf das große Ganze. Beziehen Sie Zusammenhänge mit ein. Sorgen Sie sich nicht wegen der Fotos, die Sie verlieren werden, denn diejenigen, die Sie gemacht haben werden besser sein als mit einem Zoom. Mit einem Zoom liegt das Gespür für das Motiv nahezu bei Null. Mit dem 50er muß auch der Zusammenhang passen. Es ist nicht leicht, aber die Ergebnisse können es wert sein.

Lernen Sie das 50er kennen. Mit der Zeit wird es Ihr ständiger Beleiter, eine Verlängerung des Auges und ein Partner für Ihre Visionen.

Aufgaben

In diesen Aufgaben geht es weniger um die Fotos als um das fotografische Sehen. Deshalb bedeuten diese Aufgaben mehr Arbeit und sind strenger als die früheren. Hier geht es nicht mehr um Schnappschüsse; es geht um die Kunst des Fotografierens. Es braucht einiges an Arbeit und einiges an Zeit um sie zu erledigen. Ich hoffe, einige machen mit - aber ich erwarte keine Ergebnisse in frühestens ein paar Tagen.

  1. Stellen Sie Ihre Kamera auf 50 mm ein und lassen Sie sie so. Das ist überraschend schwer, wenn Sie ein Zoom gewohnt sind, darum wird eine kleine Erinnerung helfen. Schneiden Sie zum Beispiel einen 5 cm breiten Streifen aus eine Plastiktüte heraus und befestigen diesen mit Gummibändern am Zoomring - die andere Materialoberfläche wird Sie daran erinnern, den Zoomring nicht anzufassen. Oder falls Sie einen wirklich starken Willen haben, vertrauen Sie auf sich.
  2. Geben Sie sich eine Aufgabe: Eine Situation, Zeit, Szene, Gebäude, Innenaufnahme, Portrait, Landschaft, Stadtsilhouette oder ein anderes Motiv, das Sie fotografieren möchten oder eine Geschichte, die Sie erzählen möchten. Veranstaltungen, Menschenansammlungen und Situationen können besonders viele Fotos liefern. Zeiten mit besonderem Licht können auch gut sein - denn das 50er ist für alles einsetzbar.
  3. Gehen Sie los und fotografieren Sie. Verwenden Sie nur 50 mm. machen Sie mindestens 100 Fotos, besser 200 oder 300 oder noch mehr (aber nicht mehr als 3 "gleiche" Fotos bei Belichtungsreihen.) Erhöhen Sie falls nötig die Kompression, um die Fotos auf die Speicherkarte zu bekommen.
  4. Sehen Sie sich die Fotos an: Werfen Sie alle weg, bis auf die 10 bis 30 besten.
  5. Zeigen Sie die Nummer 1 bis 5 Ihrer besten Fotos und diskutieren Sie diese.

"Strauss 31 bei der Wache" (Helsinki, 2003)

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▲Ganz rauf▲Letzte Änderung: 2013-10-29 @ 09:54 - Karl Loncarek - Impressum (mit Datenschutzerklärung)
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